Mittwoch, 8. September 2010

Teil 4: Oberamtsbeschreibung der Stadt Reutlingen von 1824


Das Gerberviertel war vor allem ein Gewerbeviertel. Heute wäre es ein Luxusviertel, wenn man es renoviert statt abgerissen hätte. Aber so konnte sich noch nicht einmal das Restaurant Alte Mühle halten. (Bildertanz-Quelle: Richard Wagner)
»GANZ REUTLINGEN IST EINE FABRIK«

Bevölkerung und Nahrungsstand.
Von der Zahl der in der Tabelle angegebenen ortsangehörigen Einwohner waren im gedachten Jahre 1822 abwesend 283, dagegen hielten sich Fremde im Orte auf 397; die Zahl der wirklich in dem Orte lebenden Personen war als 9589, die Zahl der Ehen war 1736, es kommen somit auf 1 Ehe 5½ Menschen.
Die Bevölkerung wächst von Jahr zu Jahr. Nach dem Übergang der Stadt an Würtemberg, im Jahre 1803, betrug die Inwohnerschaft 7755. Sie ist also innerhalb 20 Jahren [86] um 1720, und im Durchschnitte jährlich um 86 Menschen gewachsen. [4]
Geboren wurden jährlich im Durchschnitte in den letztern 10 Jahren 374 Kinder, darunter uneheliche 25. Es kommen somit auf nicht ganz 25 Menschen 1 Geburt und auf 14 bis 15 Geburten 1 uneheliche. Gestorben sind in demselben Zeitraume jährlich 295. Darunter sind todtgebohrne 16. Es starb somit der 31 bis 32ste Mensch und das 19te Kind kam todt zur Welt; die Sterblichkeit ist geringer als in manchen Dörfern des Oberamts. Vergl. S. 43.
Die Hauptnahrung der Einwohner besteht in dem Gewerbe. Es gibt wenig Orte im Königreiche, wo eine solche Gewerbsthätigkeit herrscht, wie in Reutlingen; zwar findet man wenig oder gar keine Fabriken, aber ganz Reutlingen ist eine Fabrik. Die bedeutendern Gewerbe sind oben S. 66 schon namhaft gemacht worden, hier heben wir noch besonders aus:
Die Gerberey, und zwar hauptsächlich die Rothgerberey, welche in Reutlingen stärker, als irgendwo im Königreiche betrieben wird. Das Haupterzeugniß ist Überleder; Sohlleder wird wenig verfertigt. Die Saffiangerberey hat in neuern Zeiten abgenommen, dagegen wird jetzt die Bereitung von laquirtem Leder in allen Farben betrieben und es hat sich darin besonders der Lederlaquirer Sommer hervorgethan. Die bedeutendsten Geschäfte in der Gerberey machen und das höchste Kataster haben: unter den Rothgerbern Johann Helb, unter den Weißgerbern Rudolph Waiblin.
Leimsiedereyen zählt man 14; sie liefern jährlich an 1000 bis 1500 Centner Leim (à 30–35 fl.), der hauptsächlich von den Hut- und Seidenfabriken in Lyon verbraucht wird.
Die Buchdruckerey und der Bücherhandel sind gleichfalls bedeutend; Reutlingen besitzt 11 Buchdruckereyen, welche sehr bedeutende Geschäfte machen. Bekanntlich ist die Stadt ein Hauptsitz des Nachdrucks; aber auch viele Originalwerke [87] werden hier gedruckt, wie z. B. neuerlich die schöne Ausgabe der alten Klassiker von der Stuttgarter Societät.
Die Bortenwirkerey ist weniger von Bedeutung; mehr noch ist es das Spitzenklöppeln, Verfertigung von gröbern Spitzen, welche unter dem Namen der Reutlinger oder Ehninger Spitzen (weil sie durch die Ehninger Krämer hauptsächlich verschlossen werden) bekannt sind. Man trifft Sommers überall auf freyer Straße, vor den Häusern Weibsleute, welche damit beschäftigt sind. Übrigens hat der Absatz neuerlich abgenommen, was hauptsächlich dem Mangel einer zweckmäßigen Leitung des Geschäfts und dem Zurückbleiben hinter dem Geschmack der Zeit in der Zeichnung zugeschrieben wird. Die Geldbeutel, welche von den Weibsleuten gestrickt werden, gehen zu Tausenden auf die Leipziger Messe. Von Holzwaaren gehen viele Sattelbäume aus. In neuern Zeiten werden auch gute Wagen in Reutlingen verfertigt, welche Absatz ins Ausland finden. In der Glockengießerey und der Verfertigung von Feuerspritzen haben die Reutlinger früher immer einen besondern Ruf behauptet; die leztere Kunst war hier lange allein einheimisch und gleichsam Eigenthum der Familie Kurz, von der auch die Spritzenmacher in Stuttgart abstammen. Eine große Anzahl von Secklern und von Schuhmachern arbeitet nicht nur für den innern Verbrauch, sondern auch für den Verkauf auf auswärtigen Märkten.
Fabriken im engern Sinne hat Reutlingen nicht; außer den oben angeführten Papier-Fabriken und einer Pulvermühle; eine Türkischroth-Färberey, womit eine Baumwollenspinnerey verbunden war, hat neuerlich wieder aufgehört. Die Pulvermühle hatte im Jahre 1822 das Unglück in die Luft zu fliegen, wobey zwey Menschen ihr Leben verloren, sie ist aber jetzt wieder hergestellt. Sehr förderlich ist dem Gewerbe in Reutlingen der Echazfluß, welcher in mehreren Canälen vertheilt ist.
Die Mühlen und Werke sind in der Tabelle 4. zu finden; hier ist noch zu bemerken: ein Bad, das Kuzisbad genannt, eine kleine Privatanstalt, die jedoch einzig zum Baden [88] eingerichtet ist, ihre eigene, aber nicht mineralische, Quelle hat und deßwegen die hiesige Schwefelquelle benutzt.
Der Handel ist nicht unbedeutend; ein höherer Handelsgeist hat jedoch in Reutlingen nie geherrscht; eine Ursache davon mag die Abgeschiedenheit von den Handelsstraßen bisher gewesen seyn.
Der Handel besteht hauptsächlich in Manufakturwaaren; die zwey bedeutendsten Handlungen sind nach dem Kataster die von Sixt Jakob und Wilhelm Finkh und die von Johann Georg, Christian und Wilhelm Fink.
Die Stadt hat drey Jahrmärkte, und eben so viele Wochenmärkte, welche zugleich Fruchtmärkte sind.
Die Landwirthschaft ist zwar ein untergeordneter, dennoch nicht unwichtiger Nahrungszweig. Die Stadt besitzt eine große Markung, und erzeugt viel Obst, Wein, Gemüse, hauptsächlich aber viel Heu und Öhmd. Vergl. S. 59.

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