Montag, 7. Januar 2013

Unzeitgemäße Betrachtungen zu einem Jahrhundertprojekt


Nun gehört sie endgültig dazu. Zu unserer Stadt, zu unserem Leben, zum Stadtbild. "Ein Jahrhundertprojekt" untertitelt GEA-Journalist Roland Hauser sein Buch und referenziert in der Headline den Lieblingsausspruch unserer Oberbürgermeisterin Barbara Bosch, die immer wieder "Eine Stadthalle für alle" adressierte. So auch mehrfach am Samstagabend bei der offiziellen Eröffnung. Max Dudler selbst, souverän wie kein anderer an diesem Abend, ungekämmt und ungehemmt, im zerknitterten Architektendunkel gekleidet, den von keiner Krawatte eingeengten Hemdausschnitt geweitet, erzählte, wie sein "Tempel" in 100 Jahren immer noch bewundert werde - dann, wenn es wirklich ein Jahrhundertwerk geworden sei. Er war ganz einfach erfrischend begeistert von sich selbst. Da war endlich jeder Hauch von Provinzialität und Provinzigkeiten verschwunden.
Ehrlich, es war ein schöner Abend. Und wenn die Stimmung weiterhin so heiter ist wie am Samstag, dann wird die Stadthalle nicht nur für die Stadt da sein, sondern auch für uns Bürger. Denn das ist die eigentliche Schwäche dieser Halle. Ihre Entstehung ist nicht wirklich ein Beispiel für Demokratie, für etwas, das aus der Bevölkerung heraus entstanden ist.
Einspruch? Widerspruch? Gab es nicht den Bürgerentscheid 2002 gegen das gigantische Kultur- und Kongress-Zentrum (KuK) des OB Schultes? Gab es nicht 2005 das Okay der Bürger für eine Planung, wie sie OB Bosch dann vorgab? Gab es nicht zwei Jahre später eine repräsentative Bürgerbefragung über den Bau der Dudler-Halle, die zudem positiv ausfiel?
Ja, all das gab es. Trotzdem beweist dies noch nicht viel. Unsere OB wies in ihrem Vortrag darauf hin, dass die Idee einer Stadthalle 150 Jahre alt sei. Das heißt doch: Seit 150 Jahren haben die Stadt an der Echaz und ihre Bürger die Chance gehabt, sich eine richtige Halle zu bauen - und nicht nur ein gemauertes Festzelt (Listhalle). Und wenn - bei aller Wertschätzung unserer Stadt und ihres kulturellen Lebens (als dessen Teil sich auch Ihr Bildertanz versteht) - trotzdem keine Halle zustandekam, dann doch deshalb, weil das kulturelle Angebot und Engagement dies nie zwingend notwendig gemacht hat. Andernfalls hätte sich die Halle schon längst von selbst gebaut, das gilt vor allem für "eine Halle für alle". Stattdessen gab es 2002 eine deutliche Abfuhr, weil die Bürger ein gesundes Gespür für Proportionen hatten. (Ein Gespür übrigens, das auch in der Kritik an dem Dudler-Bauwerk immer wieder zum Ausdruck kam.)
Frau Bosch ist eine kluge Frau. Sie setzte nicht - wie ihr glückloser Vorgänger - alles auf eine Karte, sondern bot den Bürgern an, in zwei Schritten über die Zukunft einer Stadthalle zu entscheiden. Und zwar in Bürgerentscheiden. Zuerst sollten wir unser Placet zu einer Planung und dann zu einem Bau geben. Klar, sagten wir, gute Idee. Damit wir entscheiden können, müssen wir auch die Planungen sehen. Deshalb haben wir mehrheitlich dafür gestimmt, wohl wissend, dass wir ja immer noch alles verhindern können. Mit dem zweiten Bürgerentscheid.
Den hat es allerdings nie gegeben. Stattdessen wollte es der unglaubliche Zufall, dass der Reutlinger General Anzeiger die geniale Idee hatte, eine repräsentative Umfrage zu starten und zu beenden. Das Ergebnis: Die Mehrheit ist für den Bau.
Aber eine Bürgerbefragung - so repäsentativ sie auch sein mag - ist niemals, NIEMALS, ein Ersatz für einen Bürgerentscheid, für diese reinste Form der direkten Demokratie. Bei einer Bürgerbefragung werden Sie mehr oder minder überfallartig befragt. Sie geben Ihre Meinung ab, so wie sie gerade ist. Bei einem Bürgerentscheid überlegen Sie sich vorher, wie Sie entscheiden werden. Sie stehen am vorher lange bekannten Wahltag morgens auf und begeben sich bewusst zu Ihrem Wahllokal. Sie haben sich vorher informiert, mit anderen diskutiert, die Presse (wie den GEA) studiert und nach einem längeren Prozess Ihre Meinung gebildet, die immerhin so fest ist, dass Sie diese mit der Abgabe Ihre Stimme in einem Geheimverfahren kundtun wollen. Dahinter steht jedenfalls mehr Engagement als bei einer spontanen Bürgerbefragung, die als Vorbereitung eines Bürgerentscheids durchaus legitim ist, aber niemals dessen Ersatz. Dies gilt schon gar nicht, wenn man den Bürgerentscheid vorher versprochen hat. Dann bekommt alles den Charakter einer Manipulation. Und der Eindruck entsteht, dass die Halle für alle doch nichts anderes ist als ein sogenannter "Top-Down-Ansatz", ein von oben nach unten diktiertes Kulturangebot.
Kultur aber wächst immer von unten nach oben. Vor allem eine "Kultur für alle".
Wenn wir uns nun das Programm nur für die ersten Monate anschauen, dann ist das vor allem ein "importiertes Angebot". Das hat nur sehr wenig mit Reutlingen zu tun, mit der hiesigen Kulturszene, mit Künstlern aus unserer unmittelbaren Heimat. Offensichtlich reicht deren Attraktivität nicht aus, um eine Halle zu füllen. Das Angebot ist eine Sicherheitsstrategie.
Die Reutlinger sind kluge Menschen. Sie haben immer gewusst, dass das, was sie selbst zu bieten haben, niemals so viel sein wird, um eine große Halle zu füllen und zu rechtfertigen. Das hat wenig mit der Zahl und der Qualität der Talente zu tun, das hat etwas mit der Größe der Stadt zu tun.Und Reutlingen ist - das ist mein Eindruck - eher die Stadt der Kleinkunst. Da haben wir viele Talente - mehr auf der Amateurszene als im Profilager. Warum kombinieren wir das nicht?
In dieser Beziehung war die Gala am Samstag beispielgebend. Der gemeinsame Auftritt von Württembergische Philharmonie und dem aus zwölf Chören der Stadt zu einem 240 Frauen und Männer zusammengesetzten Gesangsensemble war das eigentlich Großereignis an diesem Abend.
Das war bestimmt nicht perfekt, aber es hatte eine unglaubliche Lebens-Qualität. Das war aus der Mitte unserer Stadt. Da ging nicht nur mir das Herz auf. Das war Kultur.

Mit meiner Kamera habe ich das Ereignis aufgenommen - Es hat mich auf den Gedanken gebracht, daraus einen Film über die Stadt Reutlingen und ihre Bürger zu machen. Und der Titel steht auch schon fest: "Wir sind 2013". (Jetzt fehlt mir nur noch die Kraft dazu, ihn auch zu realisieren). Dazu und anderen Themen werde ich mich demnächst einmal mit meinen Freunden treffen. Wenn Sie auch gerne dabei sein wollen, dann schreiben Sie mir: bildertanz@aol.com.

NACHTRAG:

Im übrigens ist mir jetzt klar, warum der Reutlinger General Anzeiger sein Jubiläumsjahr 2012 "vergessen" hat. Der Verlag, der sich so für die Stadthalle stark gemacht hat, will natürlich auch darin feiern (und nicht in der Listhalle). Und irgendwie taucht dann auch der Verdacht auf, dass die vom GEA initiierte Bürgerbefragung vor diesem Hintergrund auch ihren Sinn macht - und wenn sie nur dem Ziel diente, den Entscheidungsprozess zu beschleunigen.
Schade, dass immer dieser Hauch von Manipulation damit verbunden ist - als hätte man Angst vor uns, den Bürgern (und Lesern).

Bilder von der Eröffnung:
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