Samstag, 29. Juli 2017

Reutlingen, die Marke, das Meckern und die Brunnen


Ein Kommentar von Katrin Korth

Viel wird dieser Tage darüber gesprochen, was Reutlingen vielleicht ist oder sein könnte, wie sich die Stadt präsentieren sollte und was getan werden müsste, damit ihre Potenziale sichtbar werden. Die "Köpfe für Reutlingen" zerbrechen sich darüber den Kopf, wohlwollend begleitet durch die Verwaltungsspitze, der Gemeinderat macht sich dazu möglicherweise auch seine Gedanken, die Oberbürgermeisterin hat einen Markenbildungsprozess angekündigt - natürlich mit Bürgerbeteiligung, was dann sicher heißt, dass die Bürgerschaft ein Konzept vorgestellt bekommt und noch ein paar Ergänzungen einbringen kann.
Was heißt das alles? Das Interesse und das Bedürfnis ist - zumindest bei einigen - groß, mehr aus Reutlingen machen zu wollen. Dabei scheint vor allem wichtig zu sein, dass DIE Bürger doch bitte endlich aufhören mögen mit ihrem ewigen Gemeckere, sie endlich auch ein bisschen stolz auf ihre Stadt sein sollen und obendrein auch noch die Frage beantworten sollen, was jeder Einzelne und jede Einzelne für Reutlingen tun könne. Und schließlich gibt es ja wirklich wichtigere Dinge als das bisschen Dreck vor der Haustüre. Und schlussendlich: Die Stadt ist gut, also braucht es jetzt nur noch eine Marke, mit der man das gewinnbringend verkaufen kann (Die kursiv geschriebenen Worte geben in freier Erinnerung verschiedene Berichte und Kommentare des GEA der letzten Wochen wieder, die die Autorin dieser Zeilen in Verwirrung zurückließen.

Bild: Rathausbrunnen: Baden war hier mal erlaubt, bis es die Rathausmitarbeiter störte
Warum wird in Reutlingen offensichtlich GEMECKERT, so dass das sogar Erwähnung in der Zeitung findet, und was ist überhaupt MECKERN? Doch das blendet man aus. MECKERN ist Ausdruck von Unzufriedenheit, aber eben auch einer Anteilnahme an dem, was um einen rum passiert. Und das kleine oder auch etwas größere Umfeld in der eigenen Straße, dem Stadt- oder Ortsteil oder der Stadt ist schließlich das, was jeden Menschen jeden Tag umgibt. Das ist der Alltag und damit mit das Wichtigste, was Menschen haben. Und deshalb muss man das MECKERN ernst nehmen und nicht kleinreden. Die Autorin dieser Zeilen hat in ihrer Reutlinger Zeit übrigens immer wieder die Erfahrung gemacht, dass, wenn man offen auf Menschen zugeht und sich für ihre Bedürfnisse, Wünsche und Unzufriedenheiten interessiert und miteinander Ideen und Lösungen entwickelt, tatsächlich so etwas wie einen Stolz auf die Stadt gibt.

Und es könnte ja interessant sein, die Bürgerinnen und Bürger mal ohne vorherige Richtungszuweisungen und vorformulierte Antworten zu fragen, was sich eigentlich an ihrer Stadt gut finden und wie und wo sie eine Entwicklung sehen und wünschen. So etwas macht aber nur Sinn, wenn man die Ergebnisse ernst nimmt. Es darf deshalb ernsthaft bezweifelt werden, ob ein aufgesetzter Top-Down-Prozess für eine MARKE REUTLINGEN die richtige Antwort für die Bürgerschaft ist, oder ob es nur eine nette Marketingaktion als Vorbotin des kommenden OB-Wahlkampfes wird. Eine MARKE zu kreieren ohne zu wissen, wohin sich die Stadt entwickeln soll, macht ohnehin wenig Sinn An dieser Stelle sei angemerkt, dass es schon einmal eine Marke gab "Reutlingen, das Tor zur Alb" - verschwunden auf Nimmerwiedersehen. Und Fragen zum "Wohin der Stadtentwicklung" gab es auch schon mal, das Forum Reutlingen hat sie formuliert, doch dieser von Teilen der Bürgerschaft initiierte Prozess war wohl nicht gewünscht.
Doch was ist denn nun das Besondere an Reutlingen? Man darf sich dazu ja durchaus mal Gedanken machen.
Ist es die Reichsstadt? Wirklich? Oder ist es das prägende industrielle Erbe, welches bis zur Unkenntlichkeit verschwunden ist, als würde man sich dessen schämen. Sind es die Feste und Veranstaltungen wie Weindorf, Neigeschmeckt-Markt und Garden Life? Die fast vergessene große Tradition des pomologischen Institutes und seine Wiedergeburt im Streuobstparadies? Zusammen mit dem in der Stadt wenig beachteten Biosphärengebiet könnte das so etwas wie eine kleine informelle Marke sein (das Tor zur Alb lässt grüßen, ist aber eben doch recht ländlich und wenig großstädtisch). Ist es die Kultur? Wobei ja schon seit Jahren fast verzweifelt versucht wird, eine überregionale Kulturstadt zu werden, die Reutlingen bei aller Sympathie wohl (trotz der wundervollen Württembergischen Philharmonie und einiger ganz netter Museen) nicht werden wird und vielleicht auch gar nicht werden muss.
Um also nicht nur zu MECKERN (die mahnende Worte der Frau Oberbürgermeisterin zeigen prompt Wirkung), wagt die Autorin des Beitrags mal einen kleinen und selbstverständlich aus eigener Erfahrung geprägten Blick auf eine wirkliche Besonderheit der Stadt.

Diese Besonderheit sind die Brunnen. Nur wenige Städte der Größe Reutlingens haben mehr davon (die Nachbarstadt, mit der man sich ja nicht vergleichen sollte, hat 42).
Angesichts der aktuellen Eröffnung eines weiteren Brunnens auf dem Weibermarkt und auch des Wasserspiels im Bürgerpark, welche - trotz Störfeuer einiger verbissener Hygienefanatiker – möglicherweise eine neue Ära im Umgang mit dem manchmal ungeliebten Thema eröffnen könnten, lohnt sich also ein wohlwollender Blick.
Fast 90 Brunnen schmücken Reutlingen, städtische und dörfliche, große und kleine, alte und ganz neue – mit unglaublichen Geschichten, die viel mit der Geschichte der Reichsstadt Reutlingen zu tun haben, geliebt von den Bürgerinnen und Bürgern (im Bildertanz immer wieder zu erleben, offensichtlich vergessen von den Stadtoberen - außer natürlich bei Einweihungen- trotz widriger finanzieller Bedingungen sorgsam gehegt von der Reutlinger Grünpflegeabteilung.

Bild: Maximilianbrunnen: Brunnen als Begegnungsort für Frauen

Da ist der Maximilianbrunnen auf dem Marktplatz, ein prachtvoller Renaissancebrunnen, 1570 zu Ehren des Kaisers Maximilian II. errichtet, um ihn zu bewegen, der Stadt die Zunftrechte zurückzugeben. Diese waren der widerspenstigen Stadt entzogen worden, die protestantisch bleiben wollte und sich den Rekatholisierungsversuchen erfolgreich zur Wehr setzte. Es ging um das Prinzip, und der Preis war hoch, denn Zunftrechte waren seinerzeit die Basis für Wohlstand. Die Lehre daraus: Wie macht man sich die Mächtigen gefügig, denn der Plan ging auf. 1578 erhielt Reutlingen die für die Stadt so wichtigen Zunftrechte zurück. 

Da ist der Kaiser-Friedrich-Brunnen, ebenfalls ein Renaissancebrunnen von 1561 mit einer streng dreinblickenden, abweisenden Figur, die an den Verleiher der reichsstädtischen Rechte im Jahr 1180 erinnert. Herrscher mussten noch nie freundlich sein, das ist heute ein bisschen anders.
 Bild: Lindenbrunnen - vor der Kompletterneuerung in den 50er Jahren

Da ist der Lindenbrunnen, ein kunstvoller gotischer Dreipfeilerbrunnen, der einzige seiner Art, der sich nördlich der Alpen erhalten hat, 1544 errichtet, als das gotische Zeitalter schon lange überwunden und der Moderne der Renaissance gewichen schien. Doch man war in Reutlingen offenbar schon immer besonders traditionell.

Da ist der Brunnen im Volkspark, der erst 80 Jahre nach seiner Planung gebaut wurde - die Landesgartenschau machte es möglich. Vorher wollte man zwar mit einem spektakulären Entwurf groß hinaus, endete aber doch schwäbisch pietistisch beim Sparen, befördert durch schwere Zeiten.

Bild: Der Gerberbrunnen, der in den 20er Jahren den Löwenbrunnen ersetzte

Da ist der Gerberbrunnen, in einer Zeit entstanden, als Wichtigeres anstand als Brunnenbau, und der an die große städtische Tradition der Gerber und Färber erinnert und deshalb wohl auch wichtig für die Stadtgesellschaft war. Gerberbrunnen und Gartentorbrunnen dienten übrigens lange Zeit zum Gautschen, diesem feinen Ritus zum Ende der Lehrzeit, bei dem die frisch gebackenen Gesellen von ihren Unarten und Schandtaten freigesprochen werden. Eine Tradition, untergegangen mit den Berufen der Gerber, Färber und Buchdrucker. Schade eigentlich.

Bild: Gartentorbrunnen: Gautschen, eine wundervolle und längst vergessene Reutlinger Tradition


Da waren die 1980er Jahre, eine große Zeit für die Reutlinger Brunnen. Der feinsinnige Baubürgermeister ließ viele neue errichten. Ein Beispiel dafür ist der Handwerkerbrunnen in der Altstadt. Brunnen waren wichtig für die Bürger, er hat es erkannt.

Bild: Wasserspiel Bürgerpark: wer hätte gedacht, dass ein Platz so voll von Menschen sein kann



In den letzten Jahren zwei neue Anlagen, beide nicht unumstritten, aus Sicht der Autorin beide notwendig. Der im Bürgerpark steht für ein modernes, junges Reutlingen, der auf dem Weibermarkt verbindet die Geschichte der Stadtbäche mit neuen, zeitgemäßen Raumaneignungen.

Es gäbe noch mehr zu erzählen. Wen es interessiert, der sei auf das wundervolle Buch von Andrea Anstädt über die Reutlinger Brunnen verwiesen.

Natürlich kosten Brunnen Geld, doch sie sollten es uns wert sein. Brunnen sind eben viel mehr als nur ein bisschen schmückendes Beiwerk. Sie zeigen Stadtgeschichte im Großen und Kleinen, Geschichten von Macht und von der Rolle der Menschen in der Stadt, von Begegnungen, auch von Streit und Versöhnung. Sie sind Zeichen und wichtige Begegnungsorte für die Stadtgesellschaft, am Brunnen trifft man sich. Das war schon immer so. Nicht zuletzt deshalb gibt es in einigen Städten Patenschaften und Vereine, die sich um das Wohlergehen der Brunnen einsetzen, auch finanziell.

An dieser Stelle könnte man enden, gäbe es da nicht den Listplatzbrunnen oder vielmehr das, was übrig ist von ihm.
Bild: Listplatzbrunnen bei Nacht, da war die Welt noch in Ordnung

Wie kaum ein anderer ist er Zeichen für den großen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Aufbruch nach Kriegsende, ein wundervolles Symbol der 1950er Jahre. Viele Menschen erinnert gerade dieser Brunnen an ihre Kindheit und Jugend oder das Ankommen in der Heimat, wenn man aus dem Bahnhof trat. Er war offensichtlich ungeliebtes Kind der Stadtplanung, die in der Rahmenplanung Nord lieber freie Sichtachsen und steinerne Plätze propagiert. Für so einen altbackenen Brunnen war da kein Platz mehr. Für die Autorin war der Beschluss zum Zuschütten des Brunnens einer der schlimmen Momente ihrer Reutlinger Berufszeit, sie hätte den Brunnen gern erhalten, doch das hätte eben Geld und politischen Willen erfordert. Der öffentliche Sturm der Entrüstung war denn aber doch überraschend, berechtigt war er und Ausdruck einer fatalen Fehleinschätzung der Bedeutung dieses Brunnens.
In der Zeit danach hat die Autorin einige Menschen angesprochen, durchaus respektable Persönlichkeiten der Stadtgesellschaft, ob sie sich nicht eine gemeinsame Aktion zur Rettung des Brunnens vorstellen könnten. Leider erhielt sie nur Absagen.
So tröstet sie sich mit einem privaten Sponsoring in ihrer Geburtsstadt Magdeburg, mit dem der Betrieb eines feinen kleinen Brunnens gesichert wird. Und immer mal wieder sinniert sie darüber, was denn wäre, wenn sich für den Listplatz Sponsoren finden würden. Ganz im Sinne der "Köpfe für Reutlingen" und ihrem berühmten Zitat von Kennedy: fragt nicht, was Euer Land für Euch tun kann, sondern fragt, was Ihr für Euer Land tun könnt.

Bild: Brunnensponsoring der Autorin, gewürdigt von der Stadtverwaltung Magdeburg

Die Autorin wäre bereit für ein TUN, wenn sich denn Mitstreiterinnen und Mitstreiter fänden.
Bildertanz-Quelle:Markus Niethammer/Katrin Korth/Stadtarchiv/Bildertanz

1 Kommentar:

TR hat gesagt…

" "Die "Köpfe für Reutlingen" zerbrechen sich darüber den Kopf" "

Nachdem man deren Internetpräsenz angeschaut hat, kann man darüber nur laut lachen. Für Interessierte: Es lohnt sich nicht, das anzuschauen. Lest stellvertretend für das Ganze einfach diesen einen Satz:

"Come-Together bei Sound (Eva Winter-Band), Drink und Fingerfood"