Samstag, 2. September 2017

Die Stadt ohne Bürger



Eine unzeitgemäße Betrachtung von Raimund Vollmer

Dass Stuttgart irgendwie bei der Stadtplanung das heimliche Vorbild Reutlingens sein könne, war kürzlich eine Mutmaßung, die wir hier auf Facebook und im Blog in die Welt gesetzt haben. Heute fand das im Reutlinger Generalanzeiger seine erste Bestätigung. Denn dort wurde von einer Veranstaltung der Partei "Die Linke" berichtet, bei der zwei prominente Stadträte aus Stuttgart, Hannes Rockenbauch und Luigi Pantisano, über ihre Vision von einer "lebenswerten Stadt für alle" berichteten. 
Fast könnte man meinen: autofrei wie vor hundert Jahren, aber einen solchen freien Platz gab es da gar nicht. Bildertanz-Quelle: Raimund Vollmer (2016)
So lautet der Titel eines Zielbeschlusses, dem sich Stuttgart im Juli 2017 auf der Basis einer dünnen Mehrheit im Stadtrat verschrieben hat. Und etwas ähnliches schwebt nun auch den Linken im Reutlinger Stadtrat vor. Bebildert wurde der Bericht mit "gezeichnete(n) Visionen eines anderen Stuttgarts", wie es in der Bildzeile heißt. Und siehe da: Es ist genau dieselbe architektonische Öde, wie sie sich schon lange in der City unserer Landeshauptstadt abzeichnet und sich auch ganz allmählich in unserer kleinen Großstadt einnistet. Der Unterschied zu heute ist nur: Es  ist eine Öde ohne Autos, ohne Parkhäuser. Aber es sind immer noch dieselben Rasterfassaden. Die Straßen sind nicht mehr geteert, sondern in einer sterilen Kälte gepflastert, über die auch das schnurgerade gepflanzte Grün nicht hinwegtäuschen kann. Eine Stadt ohne Seele, eine Stadt wie überall, eine Stadt, die alles ist, nur nicht lebenswert. Es ist eine Stadt ohne Bürger. Den gibt es nicht mehr. Es gibt eigentlich nur noch Einwohner. Und der wird durch seine Funktionen definiert - wie überhaupt alles funktional gesehen wird. Plätze sind zum Verweilen da, nicht zum Leben. Straßen sind zum Gehen und zum Radeln da, nicht zum Leben. Was mit den Wohnungen geschehen, war - außer dass sie preiswert sein sollen - wenig zu lesen in dem GEA-Bericht. Wahrscheinlich wurde auch nicht viel darüber gesprochen. Stadtplaner, die beide Stuttgarter Stadträte von Berufswegen sind, haben es sowieso nicht mit dem Leben.

- Wenn Stadtplaner meinen, dass die autogerechte Stadt abgelöst werden soll durch die autofreie Stadt...

- Wenn Stadtplaner meinen, dass "Zufußgehende und Radfahrende" vor allem das Straßenbild bestimmen sollen...

- Wenn Stadtplaner meinen, dass Taxi, Bus und Stadtbahn schließlich die letzten verbleibenden innerörtlichen Mobilitätsprobleme lösen...

... dann scheint alles, was eine Stadt zu einer Stadt macht, sich auf die Funktionen zu reduzieren. Wir sind nur noch Fußgänger, Radfahrer oder Fahrgäste. Eine solche Stadt braucht vielleicht wirklich keine Autos mehr, aber sie könnte auch von Automaten bevölkert werden - von Robotern. Steckdosen zum Aufladen wird es in einer solchen smarten Stadt an jeder Ecke geben.

Allerdings scheinen die Stadtplaner auf dem Weg zur "Stadt aus der Steckdose" uns Bürger doch noch zu benötigen. Denn immer dann, folgt man der Sprachsetzung in dem GEA-Bericht, wenn es darum geht, die Ziele einer komplett autofreien Stadt durchzusetzen, fällt der Begriff "Bürger". "Mit Bürgerbegehren jagen" - so zitiert unsere Heimatzeitung Stuttgarts Stadtrat Rockenbauch - will man die Politik. Wie kommt man an diese "breite Bürgerunterstützung", wie sie offensichtlich in Stuttgart herrscht, fragte sich und seine Kollegen aus der Landeshauptstadt der Reutlinger Stadtrat Thomas Ziegler: "Wie habt ihr das gemacht?"

Eine gute Frage. Man brauche ein konkretes Projekt, war die Antwort - wie zum Beispiel dieses ganz, ganz große Ziel: die autofreie Stadt. Ja, und dann? Was dann?

Tja, da fühlte ich mich nach der Lektüre so verlassen wie die Menschen auf den Zeichnungen, mit denen der GEA Anschaulichkeit vermitteln möchte.



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